Der Andere

 

von Helmut Lederer

 

 

 

Tanner ist auf diese kleine italienische Insel gefahren um seine Ruhe zu haben. Und weil erst Februar ist, hat er sie auch. Es gibt noch keine Touristen hier, die Inselbewohner sind noch unter sich. Er ist von Neapel mit dem Schiff gekommen, einen großen Rucksack auf dem Rücken und eine Tasche voller Papier und Bücher in der Hand. Auf dieser Insel gibt es keine Straßen und keine Autos, nur das Geknatter der Dreirad-Motorroller klingt durch die engen Gassen. Es gibt hier keine großen Hotels, aber einen kilometerlanger Strand aus schwarzen Steinen. Wenige Restaurants und Bars und zu dieser Zeit fast alle noch geschlossen. Und hinter dem Dorf zieht sich ein Berg empor, der unten grün ist und oben schwarz und über dem ständig eine dunkle Wolke hängt. Der Vulkan Stromboli.

 

Tanner hat hier die Ruhe gefunden, die er sucht. Er ist Schriftsteller. Sein letztes Buch fand keinen Absatz mehr und war recht schnell aus den Geschäften verschwunden. Der letzte literarische Erfolg lag schon länger zurück und Tanner hatte die letzten beiden Jahre recht gut davon gelebt. Aber das Schreiben ging ihm nicht mehr so leicht von der Hand. So als habe er in das letzte Buch auch seine letzte Kraft hineingelegt.  Eine große Leere war damals zurückgeblieben, die auch die zahlreich fließenden Schecks auf Grund des guten Verkaufs nicht füllen konnten. Er war von Veranstaltung zu Veranstaltung gereist, hatte sein Buch auf Messen vorgestellt, in Buchhandlungen gelesen und signiert. Er hatte in Talkshows von der Arbeit eines Schriftstellers erzählt und von dem großen Loch, das nach jeder Vollendung eines Buches auf ihn wartet. Er hatte nichts davon erzählt, dass für ihn dieses Loch jedes Mal größer geworden war. Er hatte Erich Fried zitiert, der einmal geschrieben hat: „Ein Dichter ist nicht einer, der Worte zusammenfügt, sondern einer den Worte zusammenfügen – wenn er Glück hat. Wenn er Pech hat, zerreißen sie ihn.“   ---

 

Tanner hat das jeden Tag ein wenig mehr gespürt, wie die Worte ihn zerreißen, wie er nicht mehr die Macht über die Worte hat, sondern sie über ihn. So war dann sein letztes Buch entstanden, das ihm, kaum dass es beendet war, schon fremd vorkam. Gleichsam so, als habe es nicht er, sondern ein anderer geschrieben. Da er einen bekannten Namen hat, nahm sein Verlag auch dieses Buch an, doch wie erwartet wurde es kein großer Verkaufserfolg. Tanner hatte sich daraufhin in seine Penthouse-Wohnung über den Dächern von München zurückgezogen und die Wohnung nur noch verlassen, um auf endlosen Spaziergängen alleine über den Sinn des Lebens im Allgemeinen und über den seines eigenen Lebens im Besonderen nachzudenken. Und es war ihm schnell klar geworden, dass das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hatte.  Nach außen hin unterschied sich sein Verhalten wenig von seinen sonstigen Gewohnheiten. Seine Freunde und Bekannten wussten, dass er sich oft zurückzog, wenn er an einem neuen Buch arbeitete und diese Arbeit begann schon lange vor dem eigentlichen Schreiben. Zunächst entstand die Geschichte in groben Umrissen in seinem Kopf und dazu brauchte er seine Ruhe. Nur diesmal wollte einfach nichts neues entstehen, statt dessen stellte er bisheriges in Frage.  Immer mehr Zweifel an seinem Tun kamen ihm und einmal hatte er gedacht, dass er vielleicht nur eine bestimmte Anzahl von Worten in seinem Leben zur Verfügung und jetzt verbraucht hatte. Auch seine Beziehung zu Frauke begann ihm fremd zu werden, er spürte, wie sie unter seinem Verhalten litt und beschloss, ein paar Monate wegzufahren. Er wollte irgendwo hin, wo er sich seine Einsamkeit nicht suchen und schon gar nicht rechtfertigen musste. Irgendwohin, wo das Alleine sein unausweichlich und dadurch legitim war. Da fiel ihm die Insel Stromboli ein, wo er vor über zwanzig Jahren öfters seinen Urlaub verbracht hatte, auf der er eine seiner ersten Geschichten hatte spielen lassen und bei deren Verfilmung er später auch selbst mitgearbeitet hatte.  Diese Insel schien ihm der richtige Platz zu sein, sehr einsam, ein recht mildes Klima auch im Winter und die Erinnerung an eine sehr produktive, kreative und auch glückliche Zeit. Hier hoffte er seine Kraft wieder zu finden.

 

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Jetzt ist er seit vier Wochen hier, lebt in einem kleinen Zimmer mit Küche, Dusche und Terrasse und hat die gesamte Insel mehrmals in verschiedenen Richtungen durchquert und den Berg mehrmals bestiegen. Manchmal hat er auch das Nachdenken vergessen, das Gehen ist zum Selbstzweck geworden.

Er hat in Bars gesessen, Wein getrunken, Menschen beobachtet. Sie haben ihn in Ruhe gelassen, selten angesprochen, sie beobachten ihn genauso wie er sie.

 

Das Leben funktioniert hier, denkt er. Jeder hat hier seine Aufgabe. Auch das Nichtstun scheint eine Aufgabe zu sein, die hier viele beherrschen. Er meint das ganz im Ernst. Man stellt sich oft vor, wie leicht das ist, nichts zu tun. Manche wünschen es sich. Aber es ist nicht so leicht. Man muss es können. Viele Rentner sind schon kurz nach der Pensionierung gestorben, viele Arbeitslose krank geworden. Auch Sportler haben Probleme mit dem Karriereende. Ein Schriftsteller muss schreiben. Er erfindet Menschen und diktiert ihnen dann Handlungen, glaubt er zumindest am Anfang. Schon sehr bald sind es aber seine eigenen Erfindungen, die scheinbar machen was sie wollen und ihn dazu zwingen, zu beobachten und niederzuschreiben. Ein Schriftsteller ist ein ständiger Beobachter – von anderen und von sich selbst. Cees Nooteboom hat einmal geschrieben: „Du zweifelst nicht an der Echtheit deiner Personen, sondern an deiner eigenen. Wenn du jemanden erfinden kannst, dann kann auch jemand dich erfunden haben.“    ---

 

Tanner weiß, dass seine Personen alle zum Leben erwachen, während er schreibt. Sie begleiten ihn bei seiner Arbeit und er begleitet sie ein Stück durch ihr Leben und manche auch bis zu ihrem Tod. Wie oft hat er sich schon von seinen Personen verabschiedet. Und wenn er die letzte Seite geschrieben hat, dann gehen die Personen aus seinem Leben, ohne sich zu verabschieden. Schreiben ist ein ständiger Abschied und der Schriftsteller bleibt alleine damit.

 

Wie jeden morgen seit vier Wochen geht Tanner am Strand entlang, bis ein großer Felsenhang das Weiterkommen verhindern. Und jedes mal bleibt er eine Weile hier stehen, so auch jetzt. Er schaut hinaus auf das Meer und hinauf zum Berg. Heute hängen die dunklen Wolken tief, vermischen sich mit dem Rauch des Kraters. Auf dem Meer sind keine Schiffe unterwegs, am Strand keine Menschen. Und doch hat sich seit ein paar Tagen etwas verändert. Der Andere ist aufgetaucht. In der Bar am Hafen, wo Tanner nachmittags meistens seinen Cappuccino trinkt, ist er ihm zuerst begegnet. Tanner hat noch versucht ihn zu ignorieren, doch der Andere hat ihn einfach angesprochen. Vier Wochen Ruhe und Einsamkeit sind jäh beendet worden. „Was machen sie hier?“ hat ihn  der Andere gefragt. So eine blöde Frage. Was mache ich hier?  Was soll ich denn hier schon machen? Ich... ja, hm – was mache ich hier eigentlich? Immer hat der Andere so blöde und banale Fragen auf Lager, die aber scheinbar jedes Mal genau den Punkt treffen. Was bildet der sich denn eigentlich ein. „Ich trinke Cappuccino,“ hat Tanner bei dieser ersten Begegnung geantwortet und sich gleichzeitig über seine erzwungene Logik geärgert.  Danach ist ihm der Andere immer wieder begegnet. Er scheint der einzige Fremde außer ihm selbst auf dieser Insel zu sein und er  spricht seine Sprache. Abends in der einzigen geöffneten Pizzeria, spät nachmittags in der Bar Ingrid, morgens am Hafen, überall ist der Andere aufgetaucht. Manchmal ist er ohne ihn zu grüßen einfach hinter oder neben ihm hergelaufen, manchmal hat er ihn mit Fragen genervt. Und wenn er mal nicht gekommen ist, hat Tanner nach ihm Ausschau gehalten und ihn fast schon vermisst.

 

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Jetzt an diesem Morgen ist Tanner alleine am Ende des Strandes. Er denkt über die erste Frage des Anderen nach: Was mache ich hier?  Ich suche, klar, das ist doch die naheliegendste Antwort. Ein Schriftsteller sucht immer. Nach Ideen, nach Motiven nach Worten oder – nach sich selbst. Das ist doch auch schon wieder zu allgemein. Auf der Suche nach sich selbst sind doch schon ganze Generationen von Psychologen samt ihren Klienten verloren gegangen und nie mehr wieder aufgetaucht. Wenn ich mich in einer meiner Geschichten verliere, denkt Tanner, dann muss ich erst mal diese Stelle finden, an der ich mich verloren habe. Sie ist der Ausgangspunkt zu meiner Suchaktion. Wir handeln oft schneller, als wir denken. Und wir denken, zumindest meistens, scheinbar schneller, als wir fühlen. Und begreifen tun wir dann noch später. Also, um zu finden, was wir verloren haben – und wenn wir es selbst sind – müssen wir diesen Automatismus durchbrechen, verlangsamen, jedes Glied der Kette zurückverfolgen. Und dies alles geschieht hundertfach, denn wir verlieren uns ja nicht als Ganzes, sondern wir verlieren Teile von uns, Gesten, Eigenheiten, Reaktionen, auch Gefühle und nicht zuletzt Worte. Aber auch Teile, von denen wir gar nichts wissen, bei denen erst andere uns darauf aufmerksam machen müssen, dass wir sie verloren haben.

 

Nein, es ist zu einfach zu sagen, ich bin auf der Suche nach mir selbst.  Also, was mache ich hier?  Ich suche nach Worten, vielleicht sollte ich mich darauf beschränken. Wenn ich all meine in diesem Leben zur Verfügung stehenden Worte verbraucht habe, wo sollen dann die Worte herkommen, die ich suche? Vielleicht von den Menschen hier auf dieser Insel. Diese Menschen sind so reich an Gesten, die brauchen nicht sehr viele Worte. Die müssen doch noch so viele übrig haben, dass sie in diesem Leben gar nicht mehr alle verbrauchen können. Von ihnen kann ich lernen.  

Tanner ist nach diesen Gedanken zufrieden, spürt fast so etwas wie ein Glücksgefühl, wenn er überhaupt noch weiß, was das ist, und macht sich langsam auf den Rückweg über den Strand.

 

„Haben Sie mal überlegt, wie viele Steine hier an diesem Strand liegen“ fragt der Andere, der plötzlich neben ihm aufgetaucht ist. Tanner hat ihn gar nicht kommen sehen. Aber er fühlt sich ertappt, denn genau über diese Frage hat er auch gerade nachgedacht.  Er hat sich vorgestellt, jeder Stein wäre ein Wort und dabei ist ihm ein Satz eingefallen, den er selbst vor vielen Jahren mal geschrieben hat: „Böse Worte sind wie fliegende Steine.“  „Und wie viele haben Sie geworfen?“ fragt der Andere. Tanner muss den Satz offensichtlich laut vor sich hingesprochen haben. „Ich habe nur den ersten geworfen,“ antwortet Tanner und geht schweigend weiter. Hinter sich hört er die Schritte des Anderen auf den Steinen knirschen.   --- 

 

So gehen sie schweigend zurück in Richtung Dorf. Bald liegen die ersten kleinen Boote auf dem Strand und sie steigen über die Seile, mit denen sie befestigt sind. Sie erreichen den Schiffsanlegesteg und gehen über die Straße weiter, vorbei an den wenigen hier abgestellten Autos, denn damit fahren kann man auf dieser Insel nicht. Tanner beachtet den Anderen nicht, weiß aber, dass er schräg hinter ihm her geht. „Gehen wir was trinken?“ fragt Tanner und der Andere nickt, was Tanner freilich nicht sehen kann, jedoch wertet er das Schweigen als Zustimmung. Sie gehen in die kleine Bar gleich neben dem Büro von Siremar und setzen sich auf die Terrasse. Man kann es tagsüber gut draußen aushalten, obwohl es heute wegen der dichten Wolken etwas kühler ist, als an den letzten, meist sonnigen, Tagen. Tanner holt zwei Gläser Rotwein, ohne zu fragen, denn er weiß inzwischen, was der Andere trinkt. Seit ein paar Tagen sitzen sie ja nun fast täglich gemeinsam hier. Tanner beginnt schon zu überlegen, wie es vorher gewesen ist. Damals, als er noch alleine hier war. Er hat Frauke erst einmal angerufen, seit er hier auf dieser Insel ist und das ist auch schon fast drei Wochen her.

„Wann haben Sie ihre Freundin eigentlich zuletzt angerufen?“ fragt der Andere und Tanner ist wieder erstaunt. Es scheint fast so, als könne der Andere Gedanken lesen. Woher weiß er überhaupt von Frauke. Vielleicht habe ich ihm von ihr erzählt, als ich betrunken war. Tanner kann sich nicht mehr erinnern, aber in den letzten Tagen haben sie beide oft zusammen gesessen und meistens auch viel getrunken. „Versteht sie, warum sie hier sind?“ fragt der Andere, ohne auf eine Antwort auf seine erste Frage zu warten. „Ich weiß nicht, ob sie es versteht. Ich weiß noch nicht mal, ob sie mich versteht,“ antwortet Tanner nachdenklich. „Haben Sie versucht, es ihr zu erklären?“ „Nein, das habe ich nicht. Ich glaube, das ist eines meiner Probleme, dass ich immer versuche, alles zu erklären. Immer versuche ich den Inhalt meiner Bücher zu erklären, die Handlungsweisen meiner Hauptpersonen, letztendlich mich selbst. Ich glaube aber, dass alles nie so richtig verstanden wird, ja manchmal auch gar nicht zu verstehen ist. Nein, ich habe nicht versucht, es Frauke zu erklären. Aber ich glaube, sie hat mich dennoch oder gerade deshalb verstanden.“ „Wahrscheinlich versteht man sie besser, wenn sie nichts erklären. Sie sollten nur schreiben und nicht mehr reden.“ Der Andere nimmt einen großen Schluck von seinem Wein und Tanner sieht ihn erstaunt an. Was ist denn das für ein blöder Vorschlag? Nur noch schreiben und nicht mehr reden. Peter Handke hat kürzlich in einem Interview gesagt, dass  wohl die blödeste Frage ist, die man ihm stellen kann: Was wollen sie damit sagen? Ich habe nichts zu sagen, ich habe was zu schreiben, sagt Handke.

 

Tanner überlegt, wie das bei ihm ist. Er glaubt, immer was zu sagen zu haben, anstatt seine Bücher für sich sprechen zu lassen. Aber vielleicht hat er Angst, dass sie nicht verstanden werden könnten. „Sind Sie darauf angewiesen, dass man Sie versteht? Nicht nur das was Sie schreiben, sondern auch Sie selbst,“ fragt der Andere. „Ich glaube, das Problem ist, dass ich mich selbst nicht mehr verstehe und indem ich anderen etwas zu erklären versuche, erkläre ich es in Wirklichkeit mir selbst,“ antwortet Tanner. Die Gläser sind leer und der Andere geht in die Bar und lässt sie wieder füllen. Als er sich wieder gesetzt hat, Tanner war inzwischen ein paar Minuten für sich allein und begann sich sofort einsam zu fühlen, sagt er: „Sie sollten vielleicht Ihre Bücher mal aufmerksam lesen, wenn sie etwas über sich selbst erfahren wollen. Ich denke nämlich, dass es genau anders herum ist, als sie glauben: Vom Schriftsteller kann man nichts über die Bücher erfahren, aber aus den Büchern alles über den Schriftsteller.“  Jetzt ist Tanner wirklich verblüfft. So hat er es bisher überhaupt noch nicht gesehen. Er schaut sein Gegenüber aufmerksam an. „Haben Sie meine Bücher gelesen?“ Der Andere nickt schweigend. „Dann sagen Sie mir doch mal, warum das letzte Buch kein Erfolg geworden ist.“ „Sagen Sie es mir. Sie haben es geschrieben.“ „Aber nach Ihrer Theorie weiß der Leser mehr als der Schreiber,“ kontert Tanner und der Andere lacht. „Jetzt haben Sie mich.“ Auch Tanner lacht und beide trinken.

 

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Nach einer Stunde haben sie drei Gläser Wein getrunken. Es ist früher Nachmittag. Sie schlendern wieder am Strand entlang, jeder für sich, so als gehen sie nur zufällig in die gleiche Richtung. Die wenigen Geräusche aus dem Dorf werden von der schwachen Brandung übertönt. Draußen liegt die kleine Insel Stromboliccio, die eigentlich die Spitze eines ehemaligen Vulkanes ist. Tanner sortiert seine Gedanken, setzt begonnene und unvollendete Sätze zusammen, greift abgebrochene Überlegungen wieder auf. Von seinem Anruf bei Frauke, dem nicht-verstanden-werden über das nicht-mehr-erklären sind sie auf das eigene sich-nicht-verstehen gekommen. Und letztendlich auf die Frage, warum sein letztes Buch kein Erfolg geworden ist. „Ich glaube, Sie haben nicht mehr für sich selbst geschrieben, sondern für Ihren Verlag oder für die Leser. Zumindest dafür, was Sie geglaubt haben, dass die erwarten,“ nimmt der Andere das unterbrochene Gespräch wieder auf. „Das war nicht mehr authentisch.“ Tanner erwidert: „Ich habe geschrieben was ich konnte. Vielleicht bin ich nicht mehr authentisch.“ Er bückt sich, hebt einen Stein auf und schleudert ihn ins Meer. „Böse Worte sind wie fliegende Steine,“ zitiert der Andere. „Die Wahrheit ist ein Stein,“ sagt Tanner. „Sie meinen die Weisheit,“ erwidert der Andere.  Tanner hebt wieder einen Stein auf. „Dann ist das die Weisheit? Der Stein der Weisen? Was passiert, wenn ich Ihnen den an den Kopf werfe?“ „Es tut weh.“ „Richtig.“ „Eben.“ „Also doch die Wahrheit!“

Tanner setzt die Wanderung fort. Es ist ihm egal, ob der Andere ihm folgt. Die Wahrheit tut weh, nimmt er seinen Gedankengang wieder auf. Aber was ist seine Wahrheit? Der Andere greift in seine Gedanken ein: „Es gibt ebenso viele Wahrheiten wie Steine an diesem Strand.“ „Das heißt ja auch: Die Wahrheit gibt es nicht,“ stellt Tanner fest. „Nein,“ bestätigt der Andere. „Es gibt viele Wahrheiten und wir suchen uns immer die für uns am erträglichsten heraus. Schwierig wird es nur dann, wenn wir uns mit der Wahrheit  eines anderen auseinandersetzen müssen.“ „So wie ich mich mit Ihrer?“ fragt Tanner. „Aber nein. Ich präsentiere Ihnen keine Wahrheiten. Ich suche auch keine. Sie verwechseln das. Sie sind der Suchende. Es sind ihre eigenen bisher verdrängten Wahrheiten, auf die sie stoßen.“ Tanner stutzt. Dieser Idiot hat schon wieder recht.

 

Sie erreichen wieder den Steg, an welchem hin und wieder Frachtschiffe anlegen, oder die Tanker, die Heizöl und Trinkwasser vom Festland bringen. Tanner schaut über das Dorf hinauf zum Berg. Der Gipfel versteckt sich hinter tiefhängenden Wolken. „Vielleicht kann ich nicht mehr schreiben,“ murmelt Tanner nachdenklich. „Vielleicht,“ meint der Andere, wodurch Tanner sich bestätigt sieht. Warum widerspricht der mir nicht? Warum stimmt der mir auch noch zu? „Glauben Sie das?“ fragt Tanner. „Glauben Sie es?“ kontert der Andere mit einer Gegenfrage. Nach einem Moment des Schweigens fährt der Andere fort: „Was würde es bedeuten, wenn Sie nicht mehr schreiben können?“ Tanner überlegt. „Das ist mein Leben. Ich könnte nicht mehr leben.“ „Sie haben Ihr Leben an Worte gehängt?“ Eine provozierende Frage des Anderen. Tanner hat schon den Mund geöffnet um etwas zu erwidern, schließt ihn aber wieder und schweigt. Genau das hat er getan. Er hat sein Leben angefüllt mit dem, was er schreibt. Alles andere ist zweitrangig. Menschen sind für ihn Objekte, die es zu bearbeiten gilt. Liebe ist ein dramaturgischer Bestandteil seiner Erzählungen, den er da einsetzen kann, wo er ihn haben will. Der Tod ist ein Akteur wie jeder andere auch. Er hat seinen Auftritt und seinen Abgang. Nur manchmal, so fällt es Tanner jetzt ein, ist seine Hand von den Tasten abgerutscht, wenn er von Liebe oder Tod geschrieben hat. Was bleibt ihm, wenn er nichts mehr schreibt? Nichts.

 

„Sie haben die Macht verloren,“ sagt der Andere. „Wenn Sie nicht mehr schreiben, können Sie die Dinge nicht mehr lenken. Ich glaube, es geht hier um die Macht.“ Tanner will protestieren, verschluckt sich aber und muss Husten. Der Andere fährt ungehindert fort: „Sie fühlen sich wie Gott. Sie bestimmen was geschieht und es geschieht. Sie sind Herr über Leben und Tod, aber Sie verwechseln Fantasie  und Wirklichkeit. Sie haben Frauke nicht erfunden...“ der Andere zögert und fügt dann zweifelnd hinzu: „...oder?“

Tanner ist entsetzt stehen geblieben. „Ich habe beim Schreiben nie Macht empfunden, sondern eher Ohnmacht. Ich war meinen Gedanken hilflos ausgeliefert.“ „Ja, ihren Gedanken. Und diese Hilflosigkeit haben Sie an ihren Figuren ausgelassen, das ist die Macht, die ich meine. Sie haben einen Weg gefunden, ihre Ohnmacht in Macht zu verwandeln und somit zu bewältigen. Sie haben ihr schwaches Selbstwertgefühl dadurch aufgewertet.“ „Jetzt hören sie aber auf mit dem Quatsch,“ braust Tanner auf. „Das muss ich mir nun wirklich nicht anhören.“ „Nein, müssen Sie nicht,“ bestätigt der Andere und geht weiter. Tanner folgt ihm.

 

Wieder gehen die beiden schweigend am Strand entlang, bis sie auch hier das Ende des Strandes erreicht haben. Die steilen Felsen fallen hier senkrecht ins Meer ab. Oft hat Tanner in den letzten Wochen auf diese Weise das Dorf umrundet. Während er auf die Felswand starrt, die den weiteren Weg versperrt, fällt ihm ein Satz von Robert Walser ein, der zu Hause in einem Rahmen über seinem Schreibtisch hängt: Ich werde mit mir so lange nicht am Ende sein, so lange ich mit dem Dichten nicht am Ende bin.  „Robert Walser ist im Narrenhaus gelandet, als er nicht mehr schreiben konnte,“ scheint der Andere schon wieder seine Gedanken zu erraten. „Nein, nein, es war umgekehrt. Er konnte nicht mehr schreiben, weil er in die Psychiatrie gekommen ist. Er war krank.“ „Krank, krank...“, lacht der Andere. „Wir sind alle irgendwie krank, aber wir sind nicht in der Psychiatrie. Andere sind nicht krank und können trotzdem nicht schreiben. Das sagt doch überhaupt nichts aus. Es geht doch darum, dass Sie glauben, am Ende zu sein, wenn sie nicht mehr schreiben können.“ „Gehen wir was trinken,“ schlägt Tanner vor und die beiden machen sich zurück auf den Weg ins Dorf.

 

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Sie sitzen vor der Bar Ingrid, auf dem Tisch stehen zwei Gläser Rotwein. Auch am späten Nachmittag kann man noch draußen sitzen. Auf der Piazza vor der Kirche San Vincenzo stehen einige Männer und unterhalten sich. Ein paar Jugendliche sitzen neben ihren Mopeds auf einer Mauer und rauchen. Tanner und der Andere haben auch Zigaretten angezündet und schauen sich durch den Rauch gegenseitig an. Tanner wäre lieber alleine geblieben, doch er ist froh, dass der Andere da ist. Wenn man alleine ist, vergeht die Zeit bedingungslos. Herausforderungen muss man sich selbst suchen und wenn man sie nicht sucht, hat man keine. Es sei denn, das Alleinsein wird zur Herausforderung. Tanner hat in seinem Leben genug Möglichkeiten erlernt, diese Herausforderung zu besiegen. Der Selbstbetrug ist eine dieser Möglichkeiten. Der Alkohol eine andere. Und die Liebe auch.

 

Tanner hat sich in den ersten Wochen seines Inselaufenthaltes dieser Herausforderung gestellt. Als der Andere ihm begegnet ist, hat ihn das nicht befreit, sondern zu einer weiteren Gegenüberstellung gezwungen. Dafür ist er ihm dankbar und dafür hasst er ihn. Sie sitzen schweigend an diesem Tisch, rauchen, trinken und warten auf den Abend, der nach einer kurzen Dämmerung sehr schnell kommt. „Haben Sie Heimweh?“ fragt der Andere. „Was ist das?“  antwortet Tanner.   „Heimweh ist das Gegenteil von Sehnsucht,“ sagt der Andere

und Tanner fügt hinzu: „Sehnsucht befreit und Heimweh beengt.“ „Ja, aber Sehnsucht macht unzufrieden und Heimweh zufrieden.“ „Ist das so?“ fragt Tanner. „Wenn man Heimweh hat, setzt das aber voraus, dass man eine Heimat hat, nach der man sich sehen kann.“ „Nein,“ widerspricht der Andere, „man kann Heimweh haben, nach der Heimat, die man nicht hat, die man sich aber wünscht.“ „Dann ist das aber Sehnsucht,“ sagt Tanner. Der Andere widerspricht nicht, diesmal sind sie sich einig und deshalb schweigen sie wieder, trinken und rauchen und warten auf die Nacht.

Und als die Nacht kommt und mit ihr die Kälte, erheben sie sich, zahlen und gehen nebeneinander die enge Gasse hinunter zu der Pizzeria, in der sie schon die Abende zuvor gesessen haben.

Nach dem Essen und einigen Gläsern Wein gehen sie hinunter zum Hafen. Die Gasse ist dunkel und menschenleer. Die Büros der Schifffahrtslinien sind geschlossen, die kleine Bar daneben noch geöffnet. Gegenüber ist die Mauer, auf der sich die Hauptpersonen seiner Geschichte, die vor vielen Jahren hier auf dieser Insel gespielt hat, zum ersten mal näher gekommen sind.  Während Tanner diese Mauer anschaut, denkt er an Frauke, die ihm immer fremder wird. Manchmal versucht er sich vorzustellen, wie sie aussieht, doch er findet kein Gesicht mehr. Das heißt, viele Gesichter vermischen sich.

 

„Was aus ihnen wohl geworden ist?“ überlegt der Andere. „Wen meinen Sie,“ fragt Tanner. „Peter und Susanne. Hier auf dieser Mauer haben sie doch gesessen.“ „Sie kennen meine Geschichten tatsächlich.“ „Ich habe den Film gesehen.“ „Ich frage mich das auch manchmal,“ sagt Tanner. „Ich erfinde Personen, beobachte sie und schreibe nieder, was sie machen und dann verlasse ich sie wieder, indem ich die Geschichte beende. Irgendwo leben diese Personen aber vielleicht weiter.“ „Ein schöner Gedanke,“ gibt der Andere zu.  Beide wenden ihren Blick von der Mauer ab und gehen die Treppe hinauf zur Bar. Im Stehen trinken sie einen Grappa und rauchen eine Zigarette. „Manchmal möchte ich am liebsten selbst in meine Geschichten eintauchen,“ spricht Tanner leise, so als ob er zu sich selbst redet. „Das Schreiben ist ein einsamer Job, meine Figuren haben es da besser als ich. Ich möchte manchmal selbst ein Teil meiner Geschichte werden und das Schreiben einem anderen überlassen.“ „Sie möchten nicht schreiben, sondern leben, nicht wahr?“ fragt der Andere und Tanner nickt. „Damit haben Sie vielleicht recht. Das Schreiben kann auch zu einem Ersatz für das Leben werden.“ „Aber dann wäre es doch gar nicht so schlimm, wenn Sie nicht mehr schreiben könnten,“ meint der Andere. „So einfach ist das nicht,“ gibt Tanner zu. „Schreiben kann ich, zumindest konnte ich es bisher, Leben muss ich aber erst wieder lernen.“ „Ist das bei Ihnen so, dass das Eine das Andere ausschließt? Entweder Schreiben oder Leben? Warum geht nicht beides nebeneinander? Oder benutzen Sie das Eine, um sich vor dem Anderen zu schützen, zu verstecken?“ Schon wieder so eine Weisheit des Anderen, denkt Tanner, aber vielleicht hat er auch damit Recht.  Vielleicht verstecke ich mich wirklich vor dem Leben.

 

Sie verlassen die Bar und schlendern durch die enge, stille und dunkle Gasse wieder nach oben. In der Pizzeria kehren sie noch mal auf ein Glas Wein ein. Verstecke ich mich nicht auch hier auf dieser Insel vor dem Leben? Tanner schaut in sein Weinglas, als hoffe er hier eine Antwort zu finden. Er weiß aber, dass seine diesbezüglichen zahlreichen Fragen nie eine Antwort gebracht haben. Der Andere hilft ihm weiter: „Man kann sich in seiner vertrauten Umwelt viel besser vor dem Leben verstecken, als in der Fremde. Wenn alles arrangiert ist, alles funktioniert und alles vorhanden ist, alles automatisch und selbstverständlich ist, wenn immer die passenden oder auch die unpassenden Leute um einen herum sind, wenn man seine vorgegebenen Aufgaben hat, dann kann man sich sehr gut vor dem Leben verstecken. Man merkt es nur nicht, weil man das, was man tut für Leben hält, weil man sich dabei vielleicht auch noch wohlfühlt. Wenn aber das alles plötzlich wegfällt, all diese künstlichen selbstgeschaffenen Gebilde um einen herum, wenn diese Vertrautheit, diese scheinbare Geborgenheit, diese selbstangelegten Ketten plötzlich wegfallen, was bleibt dann?“ „Das Leben,“ antwortet Tanner, während der Andere sich so in seinen Worten ereifert hat, dass er erschöpft Luft holen muss. „Richtig, dann bleibt das Leben. Dann können wir uns  nicht mehr verstecken. Das, was wir sonst für Leben halten, ist doch Illusion. Denken Sie mal darüber nach. Sie wissen doch genau, warum sie auf diese Insel gekommen sind. Sie suchen eine Entscheidung. Wehren Sie sich nicht dagegen, sie zu finden!“

 

Tanner steckt sich eine Zigarette an und schenkt sich Wein nach. Der Andere hat Recht. Er ist hier hergekommen, um eine Entscheidung zu finden. Er hat sich die ersten Wochen in seiner selbstgewählten Einsamkeit verkrochen und ist erst durch die Begegnung mit dem Anderen aus seiner Lethargie gerissen worden. Seit ein paar Tagen bohrt der Andere mit seinen Fragen. Er kennt diesen Mann nicht und doch scheint der ihn sehr gut zu kennen. Er hat ihm nie Sympathie gezeigt und doch hat der Andere sich nicht abschütteln lassen. Immer wenn er versucht hat, in eine seiner selbstgebauten Nischen zu flüchten, hat der Andere ihn wieder herausgelockt. Er hat ihm geholfen, eine Entscheidung zu treffen, auch wenn Tanner das nicht wahrhaben will.

 

„Gehen wir morgen auf den Berg,“ fragt Tanner. „Sie wollen da rauf?“ Der Andere ist erstaunt. „Waren Sie noch nicht oben,“ fragt er. „Doch,“ antwortet Tanner, ich war schon mehrmals dort oben, aber diesmal wird es anders sein. Wollen Sie mit mir raufgehen?“ Der Andere überlegt nur kurz. „Also gut, gehen wir morgen dort rauf. Mal sehen, was wir da finden.“ „Die erste Nacht, die ich vor vielen Jahren auf dem Gipfel verbracht habe, ist eine der wichtigsten Nächte in meinem Leben geblieben,“ erzählt Tanner. „Das ist lange her und doch war es erst  gestern. Und jeder, der mich nur annähernd etwas kennen lernen will, muss mit mir eine Nacht auf dem Stromboli verbracht haben.“ „Und sie laden mich dazu ein?“ fragt der Andere vorsichtig. „Ja, ich lade Sie dazu ein.“ Tanner schaut den Anderen an und der schaut ihn an und zum ersten mal macht sich so etwas wie ein stummes Einverständnis zwischen den beiden Männern breit.

 

Nachdem sie noch ein Glas Wein getrunken haben, verabreden sie sich für den nächsten Vormittag in der Bar Ingrid und machen sich dann getrennt auf den Heimweg. Tanner ist betrunken und schrammt mit den Schultern immer wieder gegen die Häuserwände in den engen Gassen. Er weiß nicht, wo der Andere hingegangen ist, wo er wohnt, und er weiß auch nicht, ob er sich darüber freuen soll, dass er ihn getroffen hat. Oder anders herum: der Andere hat ihn getroffen, fast scheint es so, als ob er ihn gesucht habe. Vielleicht haben sie ja auch etwas gemeinsam. Aber zum ersten mal hat er das Gefühl, dass da jemand ist, der ihn annimmt, so wie er ist. Der ihm seine Fehler und seine Schwächen um die Ohren haut, ohne ihn deswegen zu kritisieren oder zu verurteilen. Er nimmt sich vor, den anderen morgen zu fragen, wo er eigentlich herkommt. Und der Andere, ein paar Gassen weiter, nimmt sich vor Tanner morgen zu fragen, wo er eigentlich hin will.

 

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Tanner erwacht am anderen Morgen erst spät und schaut sich in dem kargen Zimmer um, als wäre er zum ersten mal hier erwacht. Ein Blick aus dem Fenster zeigt ihm tiefhängende Wolken. Der Gipfel des Berges ist ebenso wenig zu erkennen, wie der Horizont hinter dem Meer. Draußen in den Gassen schauen ihn die Menschen an, als wollen sie ihm etwas sagen, was sie dann doch lieber verschweigen. Er ist ein Fremder hier, ein Außenseiter, aber er ist akzeptiert. Und obwohl sie gestern keine Uhrzeit ausgemacht haben, geht Tanner langsam in Richtung Bar Ingrid, die nach Ingrid Bergmann benannt ist, die vor fünfzig Jahren hier einen Film gedreht hat. Er fragt sich, ob jemals irgendetwas nach ihm benannt sein wird. Vermutlich nicht. Wahrscheinlich wird unter einem Film über sein Leben auch nur stehen: nach einer Idee von...  Tanner lacht. Seine Ideen sind so zahlreich, dass sie für ein ganzes Leben reichen würden. Nur nicht für sein eigenes. Es gelingt ihm nie, eine Geschichte festzuhalten, hat er einmal in einer früheren Geschichte geschrieben und heute erscheint ihm dieser Satz schon anmaßend. Es geht nicht darum, etwas festzuhalten – viel wichtiger ist es, etwas nicht zu verlieren.

 

Und während er langsam durch die Gassen geht, lauscht er seinen Schritten, die plötzlich nicht mehr nur seine Schritte sind. Er spürt, dass der Andere hinter ihm aufgetaucht ist, wie schon so oft in den letzten Tagen. Plötzlich folgt er ihm, spricht ihn an oder auch nicht, ist einfach da. „Gehen wir einen Cappuccino trinken,“ sagt der Andere jetzt und Tanner nickt. „Gehen wir.“ „Es ist ein guter Tag für den Gipfel,“ meint der Andere. „Wir werden sicher alleine dort oben sein.“ „Wer sollte außer uns denn dort oben sein?“ fragt Tanner. Es ist doch niemand sonst hier auf der Insel.“  „Der Weg zum Gipfel ist wie der Weg zu sich selbst: ein Alleingang,“ zitiert der Andere und Tanner nickt abermals. „Aber wir sind zu zweit.“

 

Sie betreten die Bar und trinken Cappuccino. Heute morgen beim Erwachen war es Tanner so, als sehe er alles zum ersten mal. Jetzt in dieser Bar hat er das Gefühl, als sehe er alles zum letzten mal. Der Andere sieht ihn an und sagt aber nichts. Sie kaufen noch einen Sandwich und eine Flasche Wasser und dann machen sie sich auf den Weg.

Vorbei an dem ehemaligen Wohnhaus von Ingrid Bergmann und Roberto Rosselini führt der Weg durch den hinteren und ruhigeren Teil des Dorfes. Die meisten Fensterläden sind verschlossen, nur wenige Menschen sind unterwegs. Sie scheinen keine Notiz von Ihnen zu nehmen. Tanner geht voraus, wie meistens. Der Andere folgt ihm. Vorbei an den Hinweisschildern, dass der Aufstieg zum Krater verboten ist, die sie jedoch nicht beachten, erreichen sie das Ende des Dorfes. Der Weg wird sandig und staubig und führt langsam ansteigend in einigen Serpentinen durch hohes Gestrüpp.

 

 „Wenn wir schon den Weg zum Gipfel mit dem Weg zu uns selbst vergleichen, dann wäre es doch gut, wenn wir für immer auf dem Gipfel bleiben könnten,“ sagt Tanner, ohne sich nach dem Anderen umzudrehen. „Das kommt darauf an,“ erwidert der Andere, „ob wir zu uns selbst gefunden haben, wenn wir oben sind, oder erst dann, wenn wir wieder unten sind. Das Leben besteht nicht nur aus Höhepunkten. Ein Bergsteigerspruch lautet: Der Berg gehört dir erst dann, wenn du wieder unten bist. Vorher gehörst du ihm.“ „Aber warum gehen wir dann erst hinauf, wenn wir uns doch unten finden können?“ fragt Tanner. „Wir suchen uns in unserem Leben immer Höhepunkte, weil wir sie für wichtig halten. Wir glauben nur an die Erfahrungen im Besonderen und nicht an die im Alltäglichen,“ behauptet der Andere und Tanner muss ihm recht geben.

So ist wohl auch seine Ruhelosigkeit zu erklären, das ständige Suchen nach neuen Erlebnissen, Erfahrungen oder Abenteuern und so ist wohl auch seine trotz allem zunehmende Unzufriedenheit zu erklären. Seine Jagd ist vergeblich, sie führt nie zum Ziel, mehr noch, sie führt am Ziel vorbei. Wenn das Lebensmotto heißt: ´alles oder nichts`, so bedeutet das immer ´nichts`.

 

„Oder stellen Sie sich einen Läufer in einem Stadion vor,“ spricht der Andere weiter, „der seine Runden läuft, schneller als die anderen. Sein Vorsprung wird immer größer, er lässt die anderen weit hinter sich. Er läuft so schnell, dass er sie schließlich von hinten wieder einholt. Dann läuft er plötzlich hinterher.“ „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers,“ bemerkt Tanner. „Aber in dem Buch von Sillitoe bedeutete das Laufen für den Häftling doch auch gleichzeitig Freiheit.“ „Ja, aber nur scheinbar,“ gibt der Andere zu bedenken. „Wirklich  frei war er letztendlich erst dann, als er bei dem großen Wettbewerb einfach stehen geblieben ist und auf den Sieg verzichtet hat.“

 

Inzwischen haben sie das alte Observatorium erreicht, das bei einem früheren Vulkanausbruch zerstört wurde und in dem sich nun eine Pizzeria befindet, die allerdings jetzt im Februar geschlossen ist. Von hier aus haben sie den ersten Blick hinauf zum Gipfel, der jedoch in dichten Wolken liegt. „Wir werden nicht viel sehen, dort oben,“ sagt der andere und Tanner nickt. „Aber wir gehen ja auch nicht hinauf um etwas zu sehen.“  So setzen sie ihren Weg fort. Zunächst noch durch hohes Schilfgras, dann langsam immer steiler werdend auf grob gepflasterten Serpentinen, führt der Pfad dem Gipfel entgegen.

 

Sie gehen schweigend. Tanner denkt darüber nach, dass er in seinem Leben immer solche Gipfel gebraucht hat und dass er sie auch alle bestiegen hat. Oft sind die anderen Menschen nicht mehr mitgekommen und er ist alleine gegangen. Nur selten hat jemand unten gewartet, bis er wieder zurückgekommen ist. Frauke ist so jemand gewesen. Aber Tanner glaubt zu wissen, dass sie diesmal nicht wartet, bis er zurückkommt und er weiß auch, dass es so am ehrlichsten ist.

 

Inzwischen hat der Weg sich verändert, kein grobes Steinpflaster mehr, keine regelmäßigen Serpentinen. Sie haben noch einen Blick auf die Sciara del Fuoco geworfen, die vom Krater bis zum Meer hinunterführt, wo glühende Lavabrocken hinunterrollen und manchmal auch die Lava bis ins Wasser fließt.

Der Weg ist jetzt steil und staubig geworden, das dichte Gestrüpp wird langsam immer weniger und schließlich müssen sie noch über einige Felsen klettern. Tanner ist froh, dass der andere nicht spricht, denn so kann er seinen Gedanken nachgehen. Den Gedanken nachgehen? Heißt das, die Gedanken gehen voraus? Nein, er möchte mit seinen Gedanken gehen. Beim Gehen kann er besonders gut nachdenken. Schon Thomas Bernhard hat vom Gehen als „Anlass und Ausdruck der Denkbewegungen“ geschrieben. Tanner sieht das auch so. „Vielleicht haben Sie aber auch Angst vor dem Stillstand,“ meldet sich der Andere wieder zu Wort. „Stillstand ist Tod,“ antwortet Tanner, der sich schon längst nicht mehr wundert, dass der Andere seine Gedanken zu erraten scheint.

 

Sie haben inzwischen den Sattel auf Kraterhöhe erreicht. Die tiefhängenden Wolken umhüllen sie, die Luft ist kalt und feucht. Sie sehen den Krater nicht, aber sie hören ihn fauchen. „Eine unsichtbare Bedrohung,“ stellt der Andere fest. „Gehen wir weiter,“ sagt Tanner. Kurze Zeit später haben sie den Gipfel erreicht. Die Krater liegen irgendwo unter ihnen. Immer wieder hören sie das fauchen, manchmal färben sich die Wolken dunkel, wenn sie sich mit dem ausgestoßenen Rauch vermischen. Tanner geht weiter. „Wo wollen sie hin?“ fragt der Andere. „Wir können näher rangehen. Vielleicht sehen wir doch noch was.“ „Sie wollen wohl immer alles ganz genau wissen.“ Tanner antwortet nicht und steigt auf der anderen Seite des Gipfels wieder etwas ab, wo dann ein Grat zum Krater hinüber führt. „Das ist aber gefährlich,“ gibt der Andere zu bedenken. „Das ganze Leben ist gefährlich, aber bis jetzt hat es mich noch nicht umgebracht,“ erwidert Tanner. „Wer weiß,“ murmelt der Andere noch und folgt ihm. „Wissen Sie was,“ sagt Tanner, der plötzlich stehen bleibt, „manchmal wünsche ich mir, ich könnte meine Gedanken einfach ausschalten.“

„Dann würden Sie aber ihre Kontrolle und Ihre Steuerung verlieren.“ „Ja,“ lacht Tanner. „Dann würde ich endlich meine gottverdammte Kontrolle verlieren.“  Tanner dreht sich um und beginnt zu rennen. „Halt, wo wollen Sie hin,“ hört er den Anderen noch hinter sich im Nebel schreien, doch er rennt weiter. „Bleiben Sie stehen,“ schreit der Andere. „Nein!!! Tanner, nein!!!!“

Jetzt hat er mich zum ersten mal bei meinem Namen genannt, denkt Tanner noch und dann springt er mit vollem Schwung in einem weiten Satz über den Rand des Kraters direkt in die Hölle.

 

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Am nächsten Tag fällt es im Dorf auf, dass der Fremde nicht mehr da ist. Die Carabinieri durchsuchen sein Zimmer und stellen fest, dass seine Sachen alle noch vorhanden sind. Vor allem Bücher, eine Schreibmaschine und ganze Berge von Papier, teilweise geordnet auf dem Tisch liegend, teilweise zerknüllt auf dem Boden, aber alle unbeschrieben.  Die Bewohner des Dorfes berichten, dass der Fremde immer alleine gewesen sei. Er sei viel spazieren gegangen und zunächst sehr unauffällig gewesen. Später habe er angefangen Selbstgespräche zu führen. Wenn er alleine in der Bar gesessen habe, oder am Strand spazieren gegangen sei, habe er immer vor sich hin gesprochen, so als rede er mit jemanden. Aber er sei die ganze Zeit alleine gewesen. Er sei ohnehin der einzige Fremde auf der Insel gewesen. Und gestern sei er alleine auf den Berg gegangen.

Bei der Suchaktion auf dem Berg finden sie in der Nähe des Kraters im feuchten Sand noch eine einzelne frische Fußspur, die am Kraterrand endet.

 

 

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Ó helled-lyrik münchen - nr.82/2002